Erna & Otto Koch

(Letzte Bearbeitung / last updated on 15/01/2024)

Erna Guckenheimer wurde 1902 als einziges Kind von Adolf und Settchen Guckenheimer in Groß-Gerau geboren. Sie heiratete im Alter von 19 Jahren den fünf Jahre älteren Kaufmann Otto Koch aus Alzey und bekam mit ihm zwei Töchter: Lieselotte (*1923) und Ruth (*1925). Die Ehe endete 1926 tragischerweise mit dem Suizid von Erna, die sich in Alzey vor den Zug geworfen hatte, in dem ihr Mann saß. / Erna Guckenheimer was born in 1902 as the only child of Adolf and Settchen Guckenheimer in Groß-Gerau. At the age of 19, she married Otto Koch, a merchant from Alzey who was almost five years older, and had two daughters with him: Lieselotte (*1923) and Ruth (*1925). The marriage ended tragically in 1926 with the suicide of Erna, who had thrown herself in front of the train in Alzey on which her husband was sitting.

Erna Koch, geb. Guckenheimer, und Otto Koch in Alzey (1922)1Foto aus dem Privatbesitz der Familie Veit / Private property of the Veit family. / Erna Koch, née Guckenheimer, and Otto Koch in Alzey (1922)

English    Dokumente / Fotos

Jahrgang 1902

Über Erna Guckenheimer (*2.5.1902) ist nur wenig Persönliches bekannt. Ihr Jahrgang wurde jedoch international berühmt durch den Roman „Jahrgang 1902“ von Ernst Glaeser (Glaeser 2013). Er war gleichalt wie sie und einer ihrer Mitschüler in Groß-Gerau. Sein 1928 erschienenes Werk, das eine weltweite Verbreitung fand und in 24 Sprachen übersetzt wurde, war literarisch ein Überraschungserfolg. Darin verarbeitete der 26-jährige Autor die Erinnerungen seiner Kindheit und Jugend in Groß-Gerau mit vielen biografischen Bezügen und setzt sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen vor dem Ersten Weltkrieg und während der Kriegszeit auseinander.2Geschildert werden die Ereignisse der unmittelbaren Vorkriegszeit in Groß-Gerau aus der Perspektive eines zwölfjährigen Jungen. Die autobiografisch orientierte Erzählung besticht durch ihre offene und direkte Sprache. Auf ideologischen Ballast wird bei der Beschreibung zwischenmenschlicher Beziehungen vollständig verzichtet. Erfahrungen mit sozialen Barrieren und religiöser Diskriminierung gehen Hand in Hand mit der kindlichen Entdeckung der Sexualität. Der Autor rührt an gesellschaftliche Tabus und legt die nationalistischen Verblendungen in der kleinstädtischen Welt offen. Weder Religions-, noch Klassenzugehörigkeit bieten Schutz vor einer nie dagewesenen Welle an Kriegsbegeisterung. 1914 werden alle Bewohner der Stadt davon gleichermaßen überrollt. Die Lügen der Kriegspropaganda werden erst allmählich bewusst: Straße um Straße, Haus um Haus erreichen die Einwohner Nachrichten von gefallenen Vätern, gefallenen Brüdern, gefallenen Nachbarn, gefallenen Lehrern. Der Tod ist allgegenwärtig, Hunger und Elend sind überall verbreitet. Die Mütter wünschen sich nichts sehnlicher als ein schnelles Ende des Krieges. Gottseidank war der Jahrgang 1902 zu jung für die Front. Die Jugendlichen sind desillusioniert von der als Heldentum proklamierten Lüge ihrer Väter. Sie müssen ihren Platz in einer Welt sinnlosen Sterbens neu bestimmen.

Auf einem Foto vom Februar 1916 ist die Schulklasse des Schriftstellers am Realgymnasium in Groß-Gerau beim Schlittschuhlaufen zu sehen, darunter auch Erna Guckenheimer (Schleindl 1990, S. 120). Ein weiteres Foto vom September 1916 zeigt Erna mit ihrer Klasse bei einem Ausflug am Apfelbach im Nachbarort. Weitere Fotos aus ihrer Kindheit und Jugend sind nicht überliefert.

Gutbürgerliche Verhältnisse

Erna wuchs im Haus der Großfamilie Guckenheimer in der Walther-Rathenau-Straße 16 in Groß-Gerau auf. Dort betrieb ihr Vater gemeinsam mit seinem Bruder einen Getreide- und Baustoffhandel in zweiter Generation. Anfang des 20. Jahrhunderts lebten hier unter einem Dach der Großvater Simon Guckenheimer (*1832), der die Firma 1880 gegründet hatte, sowie die Familien der Söhne Ludwig (*1873) und Adolf (*1877). Erna war ein Einzelkind, verbrachte aber ihre Kindheit im Haus zusammen mit ihren beiden Cousinen Else (*1901) und Luzie (*1906), den Töchtern von Ludwig Guckenheimer und dessen Frau Rosa, geb. Grünbaum.

Die Firma „Simon Guckenheimer OHG“ war wirtschaftlich über Jahrzehnte sehr erfolgreich. Else Nachmann, geb. Marx, eine ehemalige jüdische Nachbarin der Familie, resümierte 1989 in einem Interview: „Es waren sehr reichte Leute, Ludwig Guckenheimer, Adolf Guckenheimer.“ Erna dürfte ihre Kindheit und Jugend behütet und in gutbürgerlichen Verhältnissen verbracht haben. Im September 1921 verlobte sie sich mit Otto Koch (*1897) aus Alzey und heirate ihn 1922 im Alter von 19 Jahren. Otto stammte aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie, die in Alzey lebte. Sein Vater Ludwig (*1868) betrieb einen Getreidehandel vor Ort und war mit Thekla, geb. Engel (*1874), verheiratet. Otto war ihr einziges Kind.

Eine tragische Verbindung

Von Otto ist lediglich überliefert, dass er während des Ersten Weltkriegs im Alter von 18 Jahren als „Kriegsfreiwilliger“ in das 12. Feld Artillerie Regiment eingetreten ist und 1915 am „Haubitzzug Friesenheim“ teilgenommen hat. Wie auch immer die Verbindung zwischen Erna und Otto zustande kam, denkbar ist, dass sie sich nach dem Krieg über mögliche Geschäftsverbindungen ihrer Väter (beide handelten mit Getreide) kennenlernten. Zwar sind Alzey und Groß-Gerau geografisch nur etwa 40 km voneinander entfernt, allerdings fließt dazwischen der Rhein, der keine direkte Verkehrsverbindung zwischen den Kleinstädten ermöglichte. Eine Brücke über den Rhein gab es damals nur flussabwärts im Norden auf der Höhe von Mainz bzw. flussaufwärts im Süden auf der Höhe von Worms. Trotz dieser Umstände entwickelte sich nach 1918 zwischen Groß-Gerau und Alzey ein enger (land-) wirtschaftlicher Austausch und eine schnelle Personenverbindung.3 Peter Kolb aus Dalheim schreibt dazu: „Die Beziehungen zwischen Groß-Gerau (Geburtsort von Erna) und Alzey waren damals sehr eng. Das hat politische Gründe. Rheinhessen wurde 1816 (nach dem Wiener Kongress) konstruiert mit den Kernstädten Mainz, Bingen und Worms. In der Mitte von Rheinhessen lag Alzey als Verwaltungs- und Wirtschaftszentrum. Rheinhessen gehörte von 1816 bis 1918 zum Großherzogtum Hessen und anschließend bis 1945 zum Volksstaat Hessen. Die wichtigste Stadt im Großherzogtum Hessen war Darmstadt mit Regierungssitz. Von Darmstadt fuhr man über Groß-Gerau bis an den Rhein gegenüber von Nierstein/ Oppenheim. Man setzte mit einer Fähre über und stieg in Nierstein in den Zug und fuhr bis Alzey. Diese Zugverbindung wurde 1899 / 1900 eingerichtet. Also bestanden zwischen Darmstadt (und Groß-Gerau) und Alzey rege Verbindungen.“

Das Glück von Erna und Otto war nur von kurzer Dauer. Nach der Verlobung 1921 in Alzey und der Hochzeit 1922 in Groß-Gerau wurde 1923 ihr erstes Kind, Lieselotte, in Mainz geboren. 1925 folgte die zweite Tochter Ruth, die in Alzey zur Welt kam. Anderthalb Jahre nach Ruths Geburt endete die Ehe abrupt mit einer Tragödie: Erna nahm sich das Leben. Sie warf sich in Alzey vor den Zug, in dem ihr Mann saß (Schleindl 1990, S. 145).

Die Großeltern als Elternersatz

In der Folge wuchsen die Kinder bei den Großeltern in Groß-Gerau auf. Ein Artikel unter dem Titel „Secret Surviver“, der 2014 über Lieselottes Leben verfasst worden ist, hebt hervor, wie behütet die Kinder damals waren: „when her mother passed away and she and her younger sister, Ruth, were sent to live with their maternal grandparents in Groß-Gerau. The sisters traveled to Alzey on occasion to visit with their father. They lived a safe and comfortable life.“ (Cherniawski 2014, S. 41). Ruths Tochter Debra Hutter, geb. Veit, berichtete mir im Februar 2023, dass ihre Urgroßeltern über viele Jahre Kindermädchen für Lieselotte und Ruth beschäftigt hatten. Deren Lebensmittelpunkt waren seit dem Tod der Mutter die Großeltern in Groß-Gerau, nicht der Vater in Alzey.

1933 mit dem Umzug der Guckenheimers nach Frankfurt wechselten die Enkeltöchter ins Philanthropin, eine jüdische Schule, und ab 1935 ins Dr. Heinemann‘sche Mädchenpensionat im Frankfurter Westend. Nach dem Suizid ihrer Tochter hatten Adolf und Settchen Guckenheimer darauf geachtet, die Beziehungen zum Vater der Enkeltöchter und den Großeltern in Alzey weiter zu pflegen. Trotz der großen Entfernung zwischen Groß-Gerau bzw. Frankfurt und Alzey fanden regelmäßige Besuche statt.

Konzentrationslager Buchenwald

Von einem guten Verhältnis zwischen beiden Familien sprechen die Briefwechsel der jeweiligen Großeltern mit ihren Enkeltöchtern aus 1940 und 1941, in denen die Großeltern immer wieder wertschätzend aufeinander Bezug nehmen. Während der November-Pogrome 1938 wurde Otto Koch in Alzey festgenommen und ins Konzentrationslager nach Buchenwald deportiert. In einer lokalen Gedenkschrift aus dem Jahr 2013 heißt es dazu: „15 jüdische Männer aus Alzey wurden ins KZ Buchenwald eingeliefert; der 41jährige Otto Koch kam dort am 8. Dezember 1938 um. Die meisten anderen kamen nach einigen Wochen frei: gegen das Versprechen, zu schweigen, ihren Besitz zu verkaufen und auszuwandern. Alle trugen infolge der Haft schwere gesundheitliche und psychische Schäden davon“ (Gegen das Vergessen, S. 43).

Arthur Rödl, der „1. Schutzhaftlagerführer“ des Konzentrationslagers Buchenwald, bescheinigte am 8. Dezember als Todesursache von Otto Koch eine angebliche „Herzschwäche“. Seine Leiche wurde verbrannt, die Asche Monate später an die Eltern in Alzey verschickt, wie ein Postbeleg vom 14. April 1939 mit einem Einlieferungsschein an Ludwig Koch bezeugt. Adolf und Settchen Guckenheimer hatten zu diesem Zeitpunkt ihre Enkeltochter Ruth bereits mit den Kindertransporten nach England geschickt, Lieselotte sollte wenige Monate später folgen.

Deutsch     Documents / Photos

Born in 1902

Very little personal information is known about Erna Guckenheimer (*2.5.1902). However, her year of birth became internationally famous through the novel „Jahrgang 1902“ by Ernst Glaeser (Glaeser 2013). He was the same age as her and one of her classmates in Gross-Gerau. His work, published in 1928, achieved worldwide popularity and was translated into 24 languages, it was a surprising literary success. The 26-year-old author wrote a detailed portrait of his childhood and youth in Gross-Gerau, including many biographical references, and dealt with the social conditions before the First World War and the war years.4The events of the immediate pre-war period in Groß-Gerau are described from the perspective of a twelve-year-old boy. The autobiographically oriented narrative captivates with its open and direct language. Ideological ballast is completely dispensed with in the description of interpersonal relationships. Experiences with social barriers and religious discrimination go hand in hand with the child’s discovery of sexuality. The author touches on social taboos and exposes the nationalistic delusions in the small-town world. Neither religion nor class offer protection from an unprecedented wave of war enthusiasm. In 1914, all the town’s inhabitants were equally swept away by it. The lies of the war propaganda only gradually become apparent: street after street, house after house, the inhabitants receive news of fallen fathers, fallen brothers, fallen neighbors, fallen teachers. Death is omnipresent, hunger and misery are everywhere. The mothers wishes for nothing more than a quick end to the war. Thank God the class of 1902 was too young for the front. The youth find themselves disillusioned with the lie of their fathers that was proclaimed as heroism. They must redefine their place in a world of useless dying.

A photograph from February 1916 shows the author’s school class at the Realgymnasium in Groß-Gerau ice skating, with Erna Guckenheimer among them (Schleindl 1990, p. 120). Another photo from September 1916 shows Erna with her class during a school excursion to the Apfelbach in the neighboring village. No other photos from her childhood and youth have been preserved.

Good upper-middle-class conditions

Erna grew up in the house of the big family Guckenheimer at Walther-Rathenau-Straße 16 in Groß-Gerau. There her father, together with his brother, ran a grain and building materials store in second generation. The grandfather Simon Guckenheimer (*1832), who had founded the company in 1880, and the families of his sons Ludwig (*1873) and Adolf (*1877) lived here under one roof at the beginning of the 20th century. Erna was a single child, but spent her growing up years in the house with her two cousins Else (*1901) and Luzie (*1906), the daughters of Ludwig Guckenheimer and his wife Rosa, née Grünbaum.

The company „Simon Guckenheimer OHG“ was commercially very successful for decades. Else Nachmann, née Marx, a former Jewish neighbor of the family, summarized in a 1989 interview: „They were very rich people, Ludwig Guckenheimer, Adolf Guckenheimer.“ Erna must have spent her childhood and youth sheltered and in upper-middle-class circumstances. In September 1921 at the age of 19 she got engaged to Otto Koch (*1897) from Alzey and married him in 1922. Otto came from a Jewish merchant family from Alzey. His father Ludwig (*1868) ran a local grain business and was married to Thekla, née Engel (*1874). Otto was their only child.

A tragic union

All that is known about Otto is that he joined the 12th Field Artillery Regiment as a „war volunteer“ at the age of 18 during the First World War and took part in the „Haubitzzug [Howitzers platoon] Friesenheim“ in 1915. However Erna and Otto’s connection came about, it is quite conceivable that they met after the war through possible business connections of their fathers (both traded in grain). Although Alzey and Groß-Gerau are geographically only about 40 kilometers apart, the Rhine passes between them, not allowing a direct transport connection between the little towns. At that time, there was only a bridge over the river Rhine in the downstream direction at the level of Mainz or in the upstream direction at the level of Worms.

Erna and Otto’s fortunes were only short lived. After their engagement in 1921 in Alzey and their wedding in 1922 in Groß-Gerau, their first child, Lieselotte, was born in Mainz in 1923. Their second daughter, Ruth, followed in 1925 and was born in Alzey. A year and a half after Ruth’s birth, the marriage suddenly ended in tragedy: Erna took her own life. She threw herself in front of the train carrying her husband in Alzey (Schleindl 1990, p. 145).

The grandparents as parents substitute

As a result, the children grew up with their grandparents in Groß-Gerau. An article entitled „Secret Surviver“, written in 2014 about Lieselotte’s life, emphasizes how sheltered the children were at that time: „when her mother passed away and she and her younger sister, Ruth, were sent to live with their maternal grandparents in Groß-Gerau. The sisters traveled to Alzey on occasion to visit with their father. They lived a safe and comfortable life.“ (Cherniawski 2014, p. 41). Ruth’s daughter Debra Hutter, née Veit, reported to me in February 2023 that her great-grandparents always had nannies for Lieselotte and Ruth over many years. Their principal place of residence since the death of their mother had been the grandparents in Groß-Gerau, not their fathers home in Alzey.

In 1933, with the Guckenheimers‘ move to Frankfurt, the granddaughters went to the Philanthropin, a Jewish school in Frankfurt, and from 1935 to Dr. Heinemann’s boarding school for girls in Frankfurt’s West End. After their daughter’s suicide, Adolf and Settchen Guckenheimer had taken care to maintain relations with the children’s father and the grandparents in Alzey. Despite the great distance between Groß-Gerau or Frankfurt and Alzey, regular visits took place.

Buchenwald Concentration Camp

The correspondence between the respective grandparents and their granddaughters from 1940 and 1941, in which the grandparents repeatedly refer to each other in an appreciative manner, speaks of a good relationship between the two families. During the November pogroms in 1938, Otto Koch was arrested in Alzey and deported to the concentration camp in Buchenwald. A local commemorative publication from 2013 states: „15 Jewish men from Alzey were sent to Buchenwald concentration camp; 41-year-old Otto Koch perished there on December 8, 1938. Most of the others were released after a few weeks: on the promise to keep silent, to sell their possessions and to emigrate. All of them suffered severe health and psychological damage as a result of their imprisonment“ (Gegen das Vergessen, p. 43).

Arthur Rödl, the „1st Schutzhaftlagerführer [Protective custody camp leader]“ of Buchenwald concentration camp, certified on December 8 that the cause of Otto Koch’s death was an alleged „cardiac insufficiency.“ His body was then cremated, and the ashes sent to his parents in Alzey months later, as documented by a postal receipt dated April 14, 1939, with a posting bill addressed to Ludwig Koch. At that time, Adolf and Settchen Guckenheimer had already sent their granddaughter Ruth to England with the Kindertransport, Lieselotte was to follow a few months later.


Dokumente / Documents            Anfang / Top

Anmerkungen / Notes
  • 1
    Foto aus dem Privatbesitz der Familie Veit / Private property of the Veit family.
  • 2
    Geschildert werden die Ereignisse der unmittelbaren Vorkriegszeit in Groß-Gerau aus der Perspektive eines zwölfjährigen Jungen. Die autobiografisch orientierte Erzählung besticht durch ihre offene und direkte Sprache. Auf ideologischen Ballast wird bei der Beschreibung zwischenmenschlicher Beziehungen vollständig verzichtet. Erfahrungen mit sozialen Barrieren und religiöser Diskriminierung gehen Hand in Hand mit der kindlichen Entdeckung der Sexualität. Der Autor rührt an gesellschaftliche Tabus und legt die nationalistischen Verblendungen in der kleinstädtischen Welt offen. Weder Religions-, noch Klassenzugehörigkeit bieten Schutz vor einer nie dagewesenen Welle an Kriegsbegeisterung. 1914 werden alle Bewohner der Stadt davon gleichermaßen überrollt. Die Lügen der Kriegspropaganda werden erst allmählich bewusst: Straße um Straße, Haus um Haus erreichen die Einwohner Nachrichten von gefallenen Vätern, gefallenen Brüdern, gefallenen Nachbarn, gefallenen Lehrern. Der Tod ist allgegenwärtig, Hunger und Elend sind überall verbreitet. Die Mütter wünschen sich nichts sehnlicher als ein schnelles Ende des Krieges. Gottseidank war der Jahrgang 1902 zu jung für die Front. Die Jugendlichen sind desillusioniert von der als Heldentum proklamierten Lüge ihrer Väter. Sie müssen ihren Platz in einer Welt sinnlosen Sterbens neu bestimmen.
  • 3
    Peter Kolb aus Dalheim schreibt dazu: „Die Beziehungen zwischen Groß-Gerau (Geburtsort von Erna) und Alzey waren damals sehr eng. Das hat politische Gründe. Rheinhessen wurde 1816 (nach dem Wiener Kongress) konstruiert mit den Kernstädten Mainz, Bingen und Worms. In der Mitte von Rheinhessen lag Alzey als Verwaltungs- und Wirtschaftszentrum. Rheinhessen gehörte von 1816 bis 1918 zum Großherzogtum Hessen und anschließend bis 1945 zum Volksstaat Hessen. Die wichtigste Stadt im Großherzogtum Hessen war Darmstadt mit Regierungssitz. Von Darmstadt fuhr man über Groß-Gerau bis an den Rhein gegenüber von Nierstein/ Oppenheim. Man setzte mit einer Fähre über und stieg in Nierstein in den Zug und fuhr bis Alzey. Diese Zugverbindung wurde 1899 / 1900 eingerichtet. Also bestanden zwischen Darmstadt (und Groß-Gerau) und Alzey rege Verbindungen.“
  • 4
    The events of the immediate pre-war period in Groß-Gerau are described from the perspective of a twelve-year-old boy. The autobiographically oriented narrative captivates with its open and direct language. Ideological ballast is completely dispensed with in the description of interpersonal relationships. Experiences with social barriers and religious discrimination go hand in hand with the child’s discovery of sexuality. The author touches on social taboos and exposes the nationalistic delusions in the small-town world. Neither religion nor class offer protection from an unprecedented wave of war enthusiasm. In 1914, all the town’s inhabitants were equally swept away by it. The lies of the war propaganda only gradually become apparent: street after street, house after house, the inhabitants receive news of fallen fathers, fallen brothers, fallen neighbors, fallen teachers. Death is omnipresent, hunger and misery are everywhere. The mothers wishes for nothing more than a quick end to the war. Thank God the class of 1902 was too young for the front. The youth find themselves disillusioned with the lie of their fathers that was proclaimed as heroism. They must redefine their place in a world of useless dying.
  • 5
    Foto aus dem Privatbesitz der Familie Veit / Private property of the Veit family.
  • 6
    Foto aus dem Privatbesitz der Familie Veit / Private property of the Veit family.
  • 7
    Foto aus dem Privatbesitz der Familie Veit / Private property of the Veit family.
  • 8
    Foto aus dem Privatbesitz der Familie Veit / Private property of the Veit family.
  • 9
    Foto aus dem Privatbesitz der Familie Veit / Private property of the Veit family.
  • 10
    Foto aus dem Privatbesitz der Familie Veit / Private property of the Veit family.
  • 11
    »Am 1. April 1933 fand in einer reichsweit organisierten Aktion der Boykott jüdischer Geschäfte durch die SA statt. Der Zugang zu Läden mit jüdischen Inhabern wurde in Alzey von Mitgliedern der NS-Kampftruppe gesperrt, die aus der Stadt selbst stammten, mitunter sogar in dem von ihnen blockierten Geschäft selbst beschäftigt waren. Vier Wochen später feierten die Machthaber den von ihnen zum Feiertag erklärten 1. Mai. Der „Tag der nationalen Arbeit“, wie er jetzt hieß, wurde für Juden in zynischer Weise umgedeutet. Überall im Stadtgebiet wurden jüdische Männer gezwungen, Plakate und Aufschriften von Wänden abzukratzen und die Straßen zu fegen. An jenem Tag ist das Foto entstanden, das kurz darauf als Postkarte zu kaufen war und von den „Rheinhessischen Volksblättern“ [am 12. Mai 1933, HT] zur Judenhetze benutzt wurde« (aus: Hoffmann 1988). / »On 1 April 1933, the SA organized a nationwide boycott of Jewish businesses. Access to stores with Jewish owners was blocked in Alzey by members of the Nazi combat troops, who came from the town itself and were sometimes even employed in the store they were blocking. Four weeks later, those in power celebrated May Day, which they had declared a public holiday. The „Day of National Labor“, as it was now called, was cynically reinterpreted for Jews. All over the city, Jewish men were forced to scrape posters and inscriptions off walls and sweep the streets. It was on that day that the photo was taken, which shortly afterwards could be bought as a postcard and was used by the „Rheinhessische Volksblätter“ [on 12 May 1933, HT] to incite Jews« (from: Hoffmann 1988).
  • 12
    Foto aus dem Privatbesitz der Familie Veit / Private property of the Veit family.
  • 13
    Foto aus dem Privatbesitz der Familie Veit / Private property of the Veit family.